Chill Deinen Job
Beziehungs-Spezial / / / Januar 2017
Entspannt zuhören und bei schwierigen Telefonaten mit Fingerspitzengefühl das Richtige tun – das ist die hohe Kunst des Kundengesprächs. Ein Besuch beim Pilotprojekt »Achtsamkeit« in Nürnberg

Lernen, mit Emotionen umzugehen: Trainerin Marina Röblitz-Örtelt...
ascal Marschall fährt in seiner Freizeit Kartrennen und behält auch in Gefahrensituationen den Überblick. »Bei Tempo 140 reagiert man in einer Zehntelsekunde, da muss man cool und ruhig bleiben«. Was ihm privat bei Stress leicht gelingt, ist in seinem Job als Kundenbetreuer in der Abteilung Kranken nicht immer so einfach. Marschall führt im Schnitt zehn Gespräche pro Stunde. Alle paar Minuten trifft er dabei auf einen anderen Menschen, auf den es sich emotional und sachlich einzustellen gilt. Ist der Anrufer verärgert? Hat er gerade einen Schicksalsschlag erlebt? Dabei geht es nicht immer nur sachlich und angenehm zu. »Da wird man schon mal aufgeregt, und der Blutdruck steigt«, sagt er. Beim Kundengespräch immer freundlich und zuvorkommend zu bleiben kann Schwerstarbeit sein. Marschall und seine rund 120 Kollegen der Abteilung Kranken in der Hochstraße im Nürnberger Stadtteil Rosenau haben es am Telefon mit schwierigen Lebenssituationen zu tun: mit Unfällen oder schwersten Erkrankungen wie Krebs. »Dagegen können sich nur die Wenigsten abgrenzen«, sagt Marina Röblitz-Örtelt. »Wir sind alle nur Menschen.« Die stellvertretende Gruppenleiterin coacht alle Mitarbeiter in der Kundenbetreuung Kranken durchschnittlich einmal im Quartal. Es geht darum zu lernen, wie man damit umgeht, ständig mit Emotionen konfrontiert zu werden.
Als die Nürnberger das Pilotprojekt zum Thema »Achtsamkeit« mit Unterstützung durch Torsten Rieke (LBL) für den Leitungsbereich Kundenbetreuung Süd in diesem Jahr auf die Beine stellten, hat sie sich weiterqualifizieren lassen, um die Schulung intern selbst anbieten zu können. Zwei Tage, nachdem die Einladungsmail zur Schulung rausgegangen war, hatten sich schon mehr als die Hälfte ihrer Mitarbeiter angemeldet.

...Birgit Schellenberger, Frank Pfister, Julia Di Mola und Pascal Marschall
Was ist Achtsamkeit? Die Grundidee dazu stammt aus dem Buddhismus: Entspannung fängt im Kopf an. Einfache Übungen sollen dabei helfen, die Welt bewusster wahrzunehmen und den Alltagsstress zu senken. Marschall hat durch das Coaching verstanden, mit unterschiedlichsten Emotionen umzugehen. Mit einer kurzen, intensiven Übung, bei der er die Augen geschlossen halten muss, fährt er seine Anspannung komplett runter. Es gelingt ihm, aufmerksamer zu werden und besser »zwischen den Zeilen« zu lesen. Wenn er und ein Kunde aneinander vorbeigeredet und sich in der Sache nicht verstanden haben, dann hat ihn das früher gestresst. Jetzt spricht er die Situation und sein Gefühl schon während des Telefonats an. Meist geht es dem Kunden genauso, und schon fühlt er sich emotional abgeholt.
»Das Gefühl anzusprechen, das der Kunde bei einem auslöst, ist sehr wichtig«, sagt Röblitz-Örtelt. Damit fühlt sich nicht nur der Kunde wohl, sondern man baut auch eigenen Stress ab. Trauer bei einem Todesfall, Betroffenheit bei einer schweren Erkrankung sind typische Gefühle. Wichtig ist nur, sie wahrzunehmen, nicht aber auf das eigene Leben zu übertragen. Und da helfen die Achtsamkeitsübungen. Bewusstes Aufstehen zum Beispiel: Ferse aufsetzen und langsam abrollen, das kann man auch während eines Telefonats machen. »Viele Teilnehmer sind vor den ersten Übungen erst einmal skeptisch«, so die Trainerin. »Aber sie merken, wie sie gelassener werden, Verspannungen und auch Schlafstörungen gehen zurück.« Die Achtsamkeitsschulung im Pilotprojekt umfasst zehn Stunden Einführung mit Übungen, drei Stunden mit progressiver Muskelentspannung und fünf Stunden mit Anleitungen zur Umsetzung am Arbeitsplatz. Röblitz-Örtelt stellt dabei auch unerwartete Fragen: Wie fühlt sich Schokolade im Mund an, wenn sie schmilzt? Wo liegt die Büroklammer auf dem Schreibtisch? So schärft man spielerisch die eigene Wahrnehmung und entwickelt ein Bewusstsein für sich selbst.
»WENN MAN ZEIT HAT, VERPASST MAN NICHTS«
Birgit Schellenberger
Julia Di Mola hat bis vor Kurzem noch nach einem schwierigen Telefonat ihren Gruppenleiter um Rat gefragt. »Wenn ein Anrufer sich ständig wiederholt, obwohl ich den Sachverhalt schon beim ersten Mal verstanden habe, hätte mich das früher aufgeregt. Jetzt sage ich mir selber: ›Julia, chill mal.‹« Di Mola trainiert die Achtsamkeit mittlerweile auch privat. Früher hat sie manches, was sie tagsüber belastet hat, bei ihrem Mann abgeladen. Das ist vorbei, »jetzt machen wir einige Übungen gemeinsam. Wenn man sie in den Alltag einbaut, werden einem Dinge bewusst, die sonst niemandem auffallen.«
Birgit Schellenberger ist schon seit 34 Jahren im Unternehmen. Auch ihr Mann übt mit ihr zu Hause die Achtsamkeit. »Er findet das ganz toll, dass man so was bei der Allianz lernen kann.« So was, das ist zum Beispiel sich anzuschauen, was einem morgens auf dem Weg in die Arbeit begegnet. Von Vogelzwitschern und blühenden Bäumen bis hin zu den Menschen, die den Weg kreuzen. »Wenn man Zeit hat, dann verpasst man nichts.« Und die Zeit muss man sich einfach nehmen. Schellenberger steht jetzt morgens eine Stunde früher auf. Und geht dann einfach mal einen anderen Weg in die Arbeit.
»Mein Wunsch ist, dass die Mitarbeiter/innen nach dem 99ten Anruf noch genauso freundlich und entspannt sind wie beim ersten«, sagt Abteilungsleiter Frank Pfister, dem die Wechselverbindung von Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit wichtig ist. »Der Kunde ist im Zeitalter der Digitalisierung anspruchsvoller geworden und möchte alles immer schneller erledigt haben.« Mit diesem veränderten Kundenverhalten Schritt zu halten ist die Herausforderung. Das zeigen die Ergebnisse der Online-Befragung zu psychischen Belastungen und Beanspruchungen am Arbeitsplatz.
»Achtsamkeit kann man nicht von heute auf morgen lernen, das braucht Zeit und die Bereitschaft, sein Verhalten zu ändern«, sagt Pfister. Trainerin Röblitz-Örtelt stellt in ihren Coaching-Gesprächen jetzt schon erste Erfolge fest. Es gibt kaum noch eskalierende Gespräche in der Kundenbetreuung Kranken. »Die Mitarbeiter werden aufmerksamer für Hintergrundgeräusche während des Telefonats, etwa von Kindern, Tieren oder Rasenmähern. Sie nehmen ihre Wahrnehmung ins Gespräch mit auf und stellen so eine persönliche Verbindung zum Kunden her.« Menschen vertrauen Menschen. Aus Sicht des Kunden umso mehr, wenn neben der fachlichen Seite beim Servicemitarbeiter auch die Emotionen stimmen.