Und Plötzlich ist alles anders
Beziehungs-Spezial / / / Januar 2017
Wenn sich das Leben von einer Sekunde auf die andere ändert: Im Urlaub tritt Jürgen Bertling nachts mit einem Fuß ins Leere – und stürzt in die Tiefe. Es dauert Monate, bis der Maklerbetreuer sich zurück ins Leben gekämpft hat. Auch mithilfe seiner Chefin

Ende der Postkarten-idylle: Jürgen Bertlings Mallorca-Trip endet vorzeitig im Krankenhaus
ie Geschichte einer Genesung: Im Sommer 2015 stürzt Jürgen Bertling während eines Familienurlaubs nachts vier Meter tief vom ungesicherten Bereich der »Driving Range« des Golfplatzes – mitten auf dem Hotelgelände. Der 48-Jährige überlebt schwer verletzt. Das Unglück trifft ihn hart und stellt das Leben seiner Familie auf den Kopf. Wird der Vater einer heute fünfjährigen Tochter wieder gesund? Kann er überhaupt noch arbeiten? Für seine Chefin Daniela Jüttner ist das keine Frage. Sie hilft ihrem Kollegen beim Wiedereinstieg und steht ihm menschlich und professionell zur Seite. Dafür möchte sich Jürgen Bertling bedanken. Auf die altmodische Art: Er schreibt ihr einen Brief
Liebe Daniela,
als das sprichwörtliche Kino im Kopf den Horrorfilm abspielte, in dem ich einer – fiktiven – inneren Blutung erlag, hatte ich den schlimmsten Abschnitt meines Familienurlaubs bereits überstanden.
Nur wusste ich das noch nicht, als ich im August 2015 auf Mallorca in jenem Krankenhaus in der Kleinstadt Manacor lag – unfähig, mich ohne Hilfe zu bewegen, nur mit einem deutschen Prepaid-Handy ohne Ladekabel ausgerüstet und der Aussicht, zwei Tage später aus eigener Kraft in ein Flugzeug nach Deutschland steigen zu müssen. Gebrochen waren mein Becken, das Iliosakralgelenk und ein Lendenwirbel.
Meine Frau Katja hatte Dir bereits per »WhatsApp« von meinem nächtlichen Sturz in die Tiefe berichtet. Du warst schockiert, wie Du mir später erzähltest. Ehrlich betroffen von meinem Unglück. Dass einer Deiner Mitarbeiter über Monate hinweg ausfallen würde, stand vorerst nicht im Vordergrund. Was Dich berührte, war das persönliche Schicksal des Ehepaars Bertling.
Bis heute beeindruckt mich die Selbstverständlichkeit, mit der Du mir als Vorgesetzte während der Genesung und des Wiedereinstiegs in den Job zu Seite standst. Deshalb schreibe ich Dir diesen Brief. Um mich zu bedanken.

Zurück im Job: Jürgen Bertling, Referent Zentrale Maklerbetreuung Sach // »Zu helfen war für mich selbstverständlich«: Daniela Jüttner, Referatsleiterin Zentrale Maklerbetreuung Sach
Was war geschehen? Es war eine warme Sommernacht, wie meine Frau Katja und ich sie seit fast zwei Wochen täglich erlebten. Wir genossen sie auf der Terrasse unseres Bungalows, ein Glas Wein in der Hand, unsere damals dreijährige Tochter bereits schlafend. Nur eine Sache war an jenem Abend anders als sonst: Durch die Dunkelheit drangen Sequenzen rhythmischer Rockmusik zu uns, die mich neugierig machte. Das Konzert, das offenbar auf unserer Hotelanlage stattfand, wollte ich mir zumindest kurz ansehen, und so ließ ich Katja auf der Terrasse zurück, ging der Musik entgegen, über den Golfplatz des Hotels, der teilweise im Dunkeln lag. Das Licht der Sterne würde reichen und das in der Ferne beleuchtete Konzert, glaubte ich – bis ich mit dem rechten Fuß ins Leere trat. Ich weiß noch zwei Dinge, von denen ich Dir, wie ich glaube, bis heute nicht berichtet habe: Im freien Fall suchte mein Fuß lange nach einer Treppenstufe. Und: Als ich auf dem Boden aufschlug, spielte die Musik eine Coverversion von Tina Turners Song »We Don’t Need Another Hero«. Du weißt, dass ich einen leicht skurrilen Sinn für Humor besitze, und so dürfte es dich nicht überraschen, dass ich den Soundtrack meines Sturzes mit dem Gedanken kommentierte: »Das hätte man mir ja auch vorher sagen können, dass kein weiterer Held gesucht wird. Dann wäre ich auf der Terrasse sitzen geblieben.« Das Scherzen verging mir schnell. Ich prüfte zunächst, ob ich meine Beine bewegen konnte. Das ging, eine Querschnittslähmung hatte ich also nicht zu befürchten. Da ich mich aber nicht aufsetzen konnte und entsetzliche Schmerzen im Becken- und Lendenbereich spürte, rief ich um Hilfe.
Ein Hotelgast hörte mich, meine Frau und ein Krankenwagen wurden verständigt, ich bekam Schmerzmittel gespritzt und wurde in eine Klinik nach Manacor gebracht. Dass Katja unterdessen von der örtlichen Polizei regelrecht drangsaliert wurde – die Beamten unterstellten, ich sei »massiv betrunken« gewesen –, Personalausweis und Buchungsunterlagen aus dem Safe holen musste, dass ich während eines dreitägigen Krankenhausaufenthaltes einer einzigen Röntgenuntersuchung unterzogen wurde und vom völlig desinteressierten Pflegepersonal weitgehend ignoriert wurde – das weißt du bereits. Drei Tage lang aß ich nichts, da ich nicht aufstehen und zur Toilette gehen konnte. Nur einmal probierte ich ein wenig Paella. Es war die beste, die ich während meines gesamten Urlaubs gegessen habe. Um es kurz zu machen: Meine Rettung, das waren zunächst die Kollegen von der Allianz Global Assistance. Ich weiß, dass Dein Lebensgefährte und Du inzwischen auch eine Auslandsreisekrankenversicherung dort abgeschlossen habt. Wie klug von Euch. Der Arzt in München, mit dem ich sonntags telefonieren konnte, entschied rasch, dass ich die Klinik nicht selbstständig verlassen könne, und schickte einen deutschen Sanitäter nach Mallorca.
Er begleitete mich von Manacor in eine Privatklinik nach Palma, wo ich eine weitere Nacht verbrachte, saß im Flugzeug neben mir und meiner Familie – neun Sitzplätze mussten reserviert werden, damit ich auf meiner Trage Platz hatte – und informierte die Belegschaft im Klinikum rechts der Isar kompetent und umfassend. Dort endete meine Reise vorerst.
»ICH BIN JEDEN TAG DANKBAR, DASS ICH WIEDER AUFSTEHEN KANN«
Jürgen Bertling
Wofür, wirst Du Dich langsam fragen, will ich mich denn nun bei Dir bedanken? Verzeih, wenn meine Ausführungen länger ausfallen als geplant. Du kannst Dir denken, dass es einen geradezu therapeutischen Effekt für mich hat, die Geschehnisse Revue passieren zu lassen. Du erinnerst Dich an Deinen Besuch bei mir im Krankenhaus nach der Operation, bei der eine zehn Zentimeter lange Schraube ins Iliosakralgelenk eingesetzt wurde: Es war mir eine Freude, dass Du Dir die Zeit nahmst, mich zu sehen. Und keinen Augenblick lang mit mir darüber sprachst, welche Belastung meine Krankheit für Dich und meine Teamkollegen bedeutete. Stattdessen brachtest Du mir einen Gameboy mit! Was für ein erfreulicher Einfall. Wer schon mal länger ans Bett gebunden war, weiß, dass man irgendwann nichts mehr lesen mag. Ein Computerspiel hingegen verschafft die nötige Ablenkung.
Ebenso hilfreich war es für meine Frau Katja, als unser Fachbereichsleiter Herr Bockholdt ihr anbot, dass sie ihre Arbeitszeit vorübergehend auf 60 Prozent reduzieren könne. Um sich um unser Kind, meine Pflege und alle Angelegenheiten unseres Zusammenlebens kümmern zu können, bei denen ich ihr in jener Zeit keine Hilfe sein konnte. Von Dezember an ging es mir gesundheitlich zwar besser, denn das Becken war weitgehend wieder zusammengewachsen und ich konnte mit der medizinische Rehabilitation beginnen. Allerdings erhielt ich zu jenem Zeitpunkt von der Rentenversicherung nur noch 70 Prozent meines Gehalts, musste die Lücke mithilfe von Ersparnissen und einer privaten Unfallversicherung füllen. Vom Arbeitgeber selbst fühlte ich mich indes hervorragend unterstützt. Du besuchtest mich zu Hause, sprachst mit mir über die anstehenden Veränderungen unserer Einheit und welche Rolle ich dabei spielen sollte. Unser Betriebsarzt besorgte einen neuen Bürostuhl, der sich auf viele verschiedene Arten so exakt einstellen lässt, dass ich im Sitzen kaum Schmerzen habe. Denn es war schnell klar, dass ich in Vollzeit wieder einsteigen würde – nach einer vierwöchigen Phase der Wiedereingliederung, die meine Ärzte zunächst mit mir und dann mit Dir als Vorgesetzter planten. Wie es üblich ist, begann ich mit zwei Stunden Arbeit pro Tag, steigerte mich jede Woche um zwei Stunden, bis ich einen achtstündigen Arbeitstag durchhielt. Das war im März dieses Jahres so weit.
Wie sich das für mich anfühlt, magst Du Dich fragen. Ich kann Dir sagen: Es ist ein gutes Gefühl. Es ist wahr, ich kann nicht mehr lange sitzen, ohne zwischendurch aufzustehen. Sonst bekomme ich Schmerzen. Ich kann kein Taekwondo mehr machen, was ich früher geliebt habe. Beim Einkaufen darf ich keine Wasserträger schleppen und unsere kleine Tochter erst recht nicht tragen. Auch ist nicht klar, ob ich irgendwann einmal Folgeschäden davontragen werde. Arthrose etwa und deren Auswirkungen. Ich versuche aber, nicht daran zu denken und das Leben heute zu genießen. Meine Arbeit hat mir schon immer Spaß gemacht, aber heute schätze ich sie noch mehr. Selbst am Montagmorgen, wenn der Wecker früh klingelt und ich durch das nasskalte Herbstwetter laufen muss, bin ich froh, dass ich aufstehen kann – denn das ging monatelang nicht. Mir ist völlig klar, dass ein Sturz in vier Meter Tiefe auch anders hätte enden können: mit einer Querschnittslähmung, geistiger Behinderung – oder dem Tod.
Danke, dass Du mich in dieser Zeit begleitet hast – als Vorgesetzte und verständnisvolle Kollegin.
Herzliche
Grüße
